[2001:] Kenneth Curtis ist Recycling-Unternehmer. [...] Abgepackt in Tausende von Tütchen zu je 125 Millilitern hütet er eine Flüssigkeit aus garantiert biologischer Produktion: Curtis' eigener. Seit vier Jahren macht der Ex-Rohrverleger rege Geschäfte mit seinem kleinen Geschäft [...]. Curtis, 42, ist Amerikaner, und in seiner Heimat gelten Gesetze und Bräuche, die einen wie ihn reich machen können - oder aber ihn hinter Gitter bringen. Seinetwegen hat der US-Bundesstaat South Carolina ein "Miktions-Gesetz" erlassen: Wer Urin verkauft, riskiert demnach bis zu fünf Jahren Gefängnis. Curtis floh nordwärts und verrichtet sein Business jetzt in Hendersonville, North Carolina.
Curtis lebt davon, dass sein Urin geradezu subversiv sauber ist. Er trinkt und raucht nicht, er schluckt keine Medikamente ("auch nicht bei Kopfschmerzen"); das Wichtigste aber ist: Weder zündet er sich Joints an, noch nimmt er andere illegale Drogen. Und daraus schlägt er Kapital. Seit rund 15 Jahren müssen sich Millionen Amerikaner regelmäßig von ihren Arbeitgebern auf Drogenkonsum hin untersuchen lassen. Laut Gesetz werden alle Bundesangestellten überprüft, aber zunehmend auch Arbeitnehmer der freien Wirtschaft: Piloten, Busfahrer und Sicherheitsbeamte, Banker, Journalisten und Programmierer, selbst Supermarktpersonal, Fließbandarbeiter und Bulettengriller in Fast-Food-Restaurants. Unter den größten US-Unternehmen, so ergab eine Unfrage dieses Jahres, testen 67 Prozent. Der Autokonzern General Motors sucht im Harn seiner Mitarbeiter ebenso nach Illegalem wie der Chiphersteller Intel oder auch die im Geschäft mit legalen Drogen tätige Brauerei Anheuser-Busch ("Budweiser").
In dem noch von US-Präsident Ronald Reagan ausgerufenen "Krieg gegen die Drogen" ist an intimster Front längst beträchtlicher Kollateralschaden entstanden. Die Unschuldsvermutung ist abgeschafft. Jeder ist verdächtig. Respekt vor dem Privatleben gilt wenig. In vielen Firmen müssen sogar langjährige Angestellte darauf vorbereitet sein, bei Stichproben auf Kommando innerhalb von Stunden in ein Röhrchen zu pinkeln. Für Stellenbewerber gehört die Urinkontrolle so fest zum Standardprogramm wie das Passbild in der Mappe; wer positiv getestet wird, kann gleich nach Hause gehen.
Auch in Deutschland verlangen einige Großbetriebe schon Einblick in die Blase von Bewerbern. Getestet wird bei Bosch in Reutlingen, bei der BASF, bei DaimlerChrysler und bei MTU in München. Doch amerikanische Verhältnisse sind hier längst nicht erreicht. In den USA ist die obsessive Testerei ausgewachsen zu einem riesenhaften Industriezweig mit 5,9 Milliarden Dollar Jahresumsatz. Ob die Flüssigfahndung ihr Geld wert ist, bleibt indes ungewiss. Bisher konnte keine Studie belegen, dass Drogentests die Produktivität oder auch nur die Arbeitssicherheit erhöhen. Der Computerhersteller Hewlett-Packard hat daher letztes Jahr mit der Urin-Leserei aufgehört.
Ohnehin ist der Erkenntniswert bescheiden: Harte Drogen wie Kokain oder Heroin bleiben im Harn nur wenige Tage nachweisbar. Einzig THC, der Wirkstoff von Haschisch, ist länger aufspürbar, und so richten sich die Massentests vor allem gegen Marihuana, dessen Konsum außer in den USA in immer mehr Staaten der westlichen Welt toleriert wird, weil seine Gefährlichkeit nicht heranreicht an die legaler Drogen wie Zigaretten oder Alkohol. [...]
"Noch nie", beteuert Curtis, "ist jemand mit meinem Urin durch einen Test gefallen." [...] Ein mitgeliefertes Hitzekissen bringt den Inhalt binnen Minuten auf Körpertemperatur, denn bislang beurteilen die Tester die Authentizität einer dargereichten Probe ausschließlich mit Hilfe des Thermometers. (Marco Evers, Spiegel, 15. Oktober)